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Deutschland gegen Ungarn 1954: Zehn Gründe für das "Wunder"

Nicht nur Schraubstollen und Fritz-Walter-Wetter

Deutschland gegen Ungarn 1954: Zehn Gründe für das "Wunder"

Protagonisten in Bern: Toni Turek, Ferenc Puskas, Hans Schäfer, Gyula Grosics (v. li.).

Protagonisten in Bern: Toni Turek, Ferenc Puskas, Hans Schäfer, Gyula Grosics (v. li.). imago images (3)

Aus 3:8 mach' 3:2: Ehe David Deutschland im WM-Finale 1954 Goliath Ungarn stürzte, hatte man sich beim Turnier in der Schweiz bereits in der Gruppe getroffen - mit überdeutlichem Ausgang. Was auch daran lag, dass Bundestrainer Sepp Herberger in dieser Partie einige Stammspieler schonte. Allerdings wegen des drohenden Wiederholungsspiels gegen die Türkei, das der damals seltsame Turniermodus möglich machte.

Sich gegen die schier übermächtigen Ungarn nicht in die Karten schauen zu lassen, sollte man sich im späteren Turnierverlauf noch mal begegnen, war weniger Herbergers Absicht gewesen als ein angenehmer Nebeneffekt. Zumal Ungarns Teamchef Gusztav Sebes die Deutschen schon einige Wochen vor dem Turnier als einen der gefährlichsten Gegner eingeschätzt hatte. Und seine Mannschaft am 4. Juli in Bern nach dem deutschen Doppelschlag zum 2:2 nicht perplex war, sondern ihre vielleicht stärkste Phase hatte.

Es waren eher andere Faktoren, die der Herberger-Elf in einem legendären Endspiel unter die Arme griffen, die für das "Wunder von Bern" sorgten, für Ungarns erste Niederlage nach über vier Jahren, für Deutschlands ersten Weltmeistertitel. Eine Auswahl.

Der Platz

Es regnete kräftig vor bald genau 70 Jahren in Bern, das sogenannte Fritz-Walter-Wetter gab Deutschland moralischen Rückenwind. Und auch ganz greifbaren, weil die modernen Schraubstollen von Adidas den Deutschen einen Vorteil verschafften? Durchaus - aber ein bisschen anders, als meistens überliefert wird.

Auch die Ungarn rutschten im Wankdorfstadion nicht über den aufgeweichten Rasen, der für sie ein anderes Problem darstellte: Der Ball lief nicht so gut. Wodurch der Favorit sein technisch feines Flachpassspiel mit wenigen Kontakten quasi aufgeben und mehr als sonst mit hohen und langen Bällen operieren musste. Ob die Deutschen auch an einem trockenen Tag über weite Strecken so gut hätten mithalten können, ist fraglich.

Die "Schlachten"

Der bisherige Turnierverlauf hatte Ungarn mehr beansprucht als Deutschland. Zwar mussten die "magischen Magyaren" bis dato nur viermal spielen, die Deutschen durch das Wiederholungsspiel gegen die Türkei fünfmal. Doch weil Herberger beim 3:8 im ersten Spiel gegen Ungarn viele Stammspieler geschont hatte, war die zusätzliche Partie in dieser Rechnung fast schon wieder hinfällig.

In der K.-o.-Runde erlebten die späteren Finalisten dann Unterschiedliches. Während Ungarn sowohl im mehr als umkämpften Viertelfinale gegen Brasilien ("Die Schlacht von Bern", 4:2) als auch im hochklassigen Halbfinale gegen Titelverteidiger Uruguay, das in die Verlängerung ging (4:2 n. V.), mächtig Körner ließ, trafen die Deutschen im Halbfinale auf ein Österreich, das durch seine Beteiligung an der "Hitzeschlacht von Lausanne" (7:5 im Viertelfinale gegen die Schweiz) kaum noch Gegenwehr leisten konnte. Fast schon entspannt überrollte die DFB-Elf einen der stärksten Gegner im Halbfinale mit 6:1.

Ein halber Puskas

Im größten aller Spiele mussten die Ungarn auf ihren besten Spieler verzichten - zumindest in seiner Bestform. Puskas, der in Viertelfinale und Halbfinale nur zuschaute, hatte sich im ersten Duell mit Deutschland schwer am Knöchel verletzt. Weil er seinen Gegenspieler Werner Liebrich aufreizend provoziert hatte, der Puskas daraufhin umtrat.

Dass der "Major" im Endspiel schließlich auflief, sorgte nicht nur teamintern für Diskussionen. Rundfunk-Kommentator Herbert Zimmermann fiel wiederholt auf, dass der geniale Linksfuß nicht rund lief, nicht im Vollbesitz seiner Kräfte war. Mehrere große Chancen ließ Puskas, der seine Mannschaft früh in Führung geschossen hatte, untypisch aus, ansonsten war bei Liebrich oft Endstation.

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Der Teufelskerl

Für Toni Turek hatte das Endspiel von Bern relativ bescheiden begonnen. Vor dem 0:1 hatte auch er den Ball nicht zureichend geklärt, dem 0:2 ging ein heftiger gemeinsamer Fehler mit Werner Kohlmeyer voraus. Doch als Deutschland schon in der 18. Minute ausglich, begann der Düsseldorfer Schlussmann wohl das Spiel seines Lebens.

Ungarn hatte Chancen für sechs oder sieben Tore, stand jedoch einem Torwart gegenüber, der katzenartige Fußreflexe zeigte, heroisch aus seinem Tor stürmte, artistisch abhob und noch in der 90. Minute einen Zehn-Meter-Schuss von Zoltan Czibor aus dem Eck fischte. Eine Geburtsstunde der Tradition großer deutscher Torhüterleistungen bei Weltmeisterschaften. Und was Turek nicht hielt …

Holz-Glück

Deutschland startete erst stark und glich dann rasch den bitteren 0:2-Rückstand aus. Anschließend spielte allerdings fast nur noch Ungarn. Wie durch ein Wunder überstanden die Deutschen, beim Stand von 2:2, vor allem zwei Drangphasen des Favoriten unbeschadet, in denen es durch Nandor Hidegkuti (27.) und Sandor Kocsis (58.) auch je einen "Alu-Treffer" gegeben hatte. Also damals noch Holz-Treffer. Turek wäre jeweils deutlich geschlagen gewesen, das Finale um ein paar Zentimeter womöglich ganz anders verlaufen.

Die Gnade des Schiedsrichters

Werner Liebrich gegen Ferenc Puskas

Puskas (re.) grätscht ein zum vermeintlichen 3:3. Der Treffer findet aber keine Anerkennung. imago images/Pressefoto Baumann

Um die Leitung und Leistung des Gespanns um den englischen Schiedsrichter William Ling ranken sich seit Jahrzehnten Gerüchte. Von der vermeintlichen Rache des Engländers für die legendäre Schmach in Wembley ein halbes Jahr zuvor bis zur Verschwörung gegen ein kommunistisch regiertes Land war und ist alles dabei. Mit Vorsicht zu genießen.

Tatsächlich hatte das DFB-Team in zwei Schlüsselszenen aber Glück. Vor dem 2:2 durch Helmut Rahn, nach einer Ecke von Fritz Walter, hatte Hans Schäfer Ungarns Schlussmann Gyula Grosics doch enorm behindert - auf Befehl von Herberger, wie der Kölner später verriet. Es wäre möglich gewesen, hier auf Foul zu entscheiden und abzupfeifen. Das passierte aber nicht.

Und in der 86. Minute, keine 100 Sekunden nach Rahns umjubeltem 3:2 aus dem "Hintergrund", schoss Puskas vermeintlich zum 3:3 ein - das wegen der Entscheidung auf Abseits, durchgesetzt vom walisischen Linienrichter Sandy Griffiths, jedoch keine Anerkennung fand. Die Ungarn fühlten sich noch lange verschaukelt, selbst Deutschlands Ersatzspieler Alfred Pfaff gab später in einer ZDF-Doku zu, vom Seitenrand keine Abseitsstellung erkannt zu haben.

Gestutzte Flügel

Ungarns "goldene Elf" - in Originalbesetzung stand sie im WM-Finale nicht auf dem Rasen. Rechtsaußen Laszlo Budai, der im sehr rechtslastigen Angriffsspiel der Ungarn ein wunderbar harmonierendes Duo mit Halbstürmer Kocsis bildete, wurde von Teamchef Sebes in Bern nicht eingesetzt. Angeblich, weil er in dessen Augen nach dem Halbfinal-Epos gegen Uruguay so einen angeschlagenen Eindruck machte.

Doch nicht nur das. Sebes nahm auch Linksaußen Czibor von seiner angestammten Position und bot ihn rechts auf. Links stürmte dafür relativ überraschend Mihaly Toth. Ungarns Flügelspiel darbte jedenfalls, bis Sebes Czibor und Toth nach der Pause die Flügel wechseln ließ und es sofort besser lief. Zu diesem Zeitpunkt hatte er aber schon 45 Minuten "verschwendet", womit er bis zu seinem Lebensende 1986 immer wieder haderte.

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Die Unterbrechung

Während die erste Spielhälfte noch einigermaßen ausgeglichen war, spielte und stürmte nach dem Seitenwechsel fast nur Ungarn. Augenhöhe war erst rund zehn Minuten vor Schluss wiederhergestellt, nach einer verletzungsbedingten Unterbrechung.

Schlussmann Turek war bei einer Rettungstat mit Czibor kollidiert und musste zirka eine Minute lang behandelt werden. Eine Möglichkeit für Deutschland, durchzuatmen und sich noch mal einzuschwören. Dass der kommende Weltmeister daraufhin wieder Mut fasste und das Spiel deutlich ausgeglichener wurde, lässt sich der Radio-Reportage Zimmermanns deutlich entnehmen.

Die eigene Qualität

Die Frage, wer 1954 WM-Favorit ist, war schnell beantwortet. Ungarn hatte seit vier Jahren kein Spiel mehr verloren, unter anderem England in Wembley mit 6:3 vorgeführt. Beim Wiedersehen in Budapest gab es übrigens ein 7:1. Individuell wie kollektiv gab es zu dieser Zeit keine bessere Mannschaft.

Dass Deutschland aber zu den Teams zählte, denen bei der WM eine Rolle zuzutrauen war, schrieb nicht zuletzt der kicker. Durch ein 5:3 gegen die Schweiz Ende April ließ sich Herausgeber Dr. Friedebert Becker zur Ankündigung hinreißen, dank der furiosen deutschen Sturmreihe um Fritz Walter, der ohnehin besser als Puskas sei, könne "niemand anders Weltmeister werden" als Deutschland. Das griff Becker am Tag nach dem Endspiel gerne wieder auf - wie auch seine ganz selbstverständliche Erklärung: "Deutschlands Sturm ist unübertroffen."

Der Begriff

Vor bald 70 Jahren kam es im WM-Finale 1954 auch deshalb zum Wunder, weil mit dem Begriff "Wunder" damals inflationär um sich geworfen wurde. Auch im kicker hoffte man in Zeiten des "Wirtschaftswunders" schon vor dem Gruppenspiel gegen Ungarn auf eines, nach dem Viertelfinal-Sieg gegen Jugoslawien war "Ein Wunder wurde Wirklichkeit" über dem Spielbericht zu lesen. Und Zimmermann nannte Deutschlands Final-Einzug schon beim Einlaufen der Mannschaften im Endspiel ein "Fußball-Wunder". Man wunderte sich einfach gern.

So sorgte auch der zeitgemäße Sprachgebrauch dafür, dass Deutschlands erster WM-Titel in den Jahrzehnten danach zu einer vielleicht etwas größeren Sensation hochstilisiert wurde, als er das rein sportlich eigentlich war. Wobei das Zusammenkommen all dieser Faktoren dann doch wieder für ein Wunder spricht.

Niklas Baumgart

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