Bundesliga

Lieblingsspiel: Freche DDR überrascht Europameister Frankreich

WM-Qualifikation, DDR - Frankreich, 11. September 1985

Lieblingsspiel: Die Jagd auf den Gallischen Hahn - und der Europameister in der Falle

Mit Volldampf voraus: Der junge Ulf Kirsten (l.) gegen den Franzosen Yvon Le Roux.

Mit Volldampf voraus: Der junge Ulf Kirsten (l.) gegen den Franzosen Yvon Le Roux. picture alliance

Der Abend des 11. September 1985 endet tief in der Nacht, nach einer langen und ziemlich beengten Rückfahrt. Fünf Mann im hellblauen Skoda S100, von Leipzig aus geht es erst Richtung Süden, ab dem Hermsdorfer Kreuz nach Westen, Abfahrt Gotha, über den Rennsteig und durch viele Kurven nach Hause, Alt-Neubau, sechster Stock ohne Fahrstuhl, kurze Nacht. Der Unterricht am nächsten Morgen läuft - umrankt von bleierner Müdigkeit - eher so halbgut für mich. Sorry nochmal für die mangelnde Mitarbeit in Mathe, Frau Blum, und nein, Frau Heubel, ich hatte die Russisch-Vokabeln nicht vergessen, nur verdrängt. Gab halt Wichtigeres, ausnahmsweise.

In der großen Pause sprechen die Jungs der Klasse 6c der 4. Polytechnischen Oberschule Schmalkalden über das WM-Qualifikationsspiel tags zuvor. DDR 2, Frankreich 0. Die, denen es die Eltern erlaubt hatten, durften bis zum Schluss in den Wohnzimmern zuschauen. Uwe Grandel hat das Spiel im DDR-Fernsehen kommentiert, es gibt wunderbare Schnipsel davon bei Youtube zu sehen - und zu hören. Sportlich vollzieht sich auf dem Rasen des Leipziger Zentralstadions eine Sensation; Grandel protokolliert sie mit jener bilanzbuchhalterisch anmutenden Sachlichkeit, die ihn immer ausgezeichnet hat.

Ganz am Ende, als alle auf den Rängen und die DDR-Spieler unten die Arme hochreißen, liefert Grandel, der seine Ergriffenheit auch jetzt bestmöglich zähmt, ungewollt noch ein Bonmot: "Diesen Sieg gegen den Europameister haben sich alle elf Feldspieler - von unserem Kapitän René Müller bis zum Mann mit der Nummer 11, zu Andreas Thom - redlich verdient." Vermutlich hat mancher, der im Stadion ist, zwischendurch wirklich nachgezählt, ob die DDR einen Mann mehr auf dem Platz hat. Es sieht phasenweise so aus, und das ist nach den Monaten zuvor eigentlich kaum zu glauben.

Die große Leere: Viel Skepsis nach verpatztem Start

Ich höre Grandel nicht an jenem Abend. Ich höre und sehe 78.000 Menschen - wahrscheinlich, ganz sicher sogar sind es mehr -, und ich spüre, was ein Fußballspiel mit ihnen machen kann. Sie sind gekommen, weil sie neugierig sind auf die Virtuosen Michel Platini und Alain Giresse, und sie bringen viel Skepsis mit, was die eigene Mannschaft angeht, die den Start in die WM-Qualifikation in den Sand gesetzt hat: 2:3 in Leipzig gegen Jugoslawien, das letzte Länderspiel von Joachim Streich; 0:1 in Sofia gegen Bulgarien, 0:2 in Paris gegen Frankreich, dazu zwei schmucklose Pflichtsiege gegen Luxemburg.

Und dazwischen, im Mai 1985, eine 1:4-Testspiel-Abreibung in Kopenhagen gegen die frechen, forschen, flinken Dänen um den Doppel-Torschützen Michael Laudrup, Sören Lerby, Frank Arnesen, Preben Elkjaer Larsen und Morten Olsen. Es ist das erste Länderspiel von Ulf Kirsten und sonst die große Leere - und der letzte Beweis, dass die DDR-Nationalmannschaft international den Anschluss verloren hat.

Diese Abende mit den geringsten Erwartungen...

Europameister Frankreich

An einem großen Abend zu Gast im Leipziger Zentralstadion: Europameister Frankreich mit Kapitän Michel Platini (r.). picture alliance

Aber manchmal werden - im Fußball wie im Leben - die Abende mit den geringsten Erwartungen die schönsten. Rainer Ernst, der große Blonde vom Serienmeister BFC Dynamo, der so viel kann und so wenig geliebt wird, wird in Leipzig anfangs ausgepfiffen, bei jeder Ballberührung und schon vor dem Anpfiff. Die Mitspieler umringen Ernst, den sie brauchen für dieses Spiel, im Tunnelgang und erzeugen einen Riesenkrach, als sein Name draußen verkündet und ausgepfiffen wird. Die Nationalmannschaft hat es nicht immer leicht mit ihren Fans, aber die haben es auch nicht leicht mit ihr.

Trainingsweltmeister - das ist das Attribut, das die DDR-Elf nicht los wird in den 70er und eingangs der 80er Jahre, weil sie in Testspielen gegen die Großen oft gut mithält, aber dann, wenn es drauf ankommt, Form und Nerven nicht im Griff hat. An diesem Abend hat sie beides im Griff, und Jörg Stübner - dieser nimmermüde Rackerer aus der Dresdner Dynamo-Schule - hat den großen Platini im Griff. Es ist Stübners größtes Spiel, sein wichtigstes - das gegen sich selbst - verliert er später. Alkohol, Depressionen, er lässt sich jahrelang nicht helfen, und als er sich wieder helfen lassen will, stirbt er, mit gerade 53, im Juni 2019.

Stanges Mut mit den jungen Wilden wird belohnt

Dieser Mittwochabend im September 1985 ist gefühlt eine Art Wiedergeburt der DDR-Nationalmannschaft. Bernd Stange, der junge Trainer, geht auch personell ins Risiko. Er verzichtet auf Libero-Legende Hans-Jürgen Dörner, der gerade noch zum "DDR-Fußballer des Jahres" gekürt worden war, und setzt im Abwehrzentrum auf BFC-Libero Frank Rohde und den jungen Erfurter Carsten Sänger. José Touré trifft früh im Spiel per Kopf die Latte, aber der Außenseiter wird von Minute zu Minute selbstbewusster.

Rainer Ernst gegen Joel Bats

Diese Abende mit den gerinsten Erwartungen: Als ein Ernst-Solo erst von Torhüter Joel Bats gebremst wird, stehen alle im Stadion. imago images

Die jungen Wilden kämpfen Europas Nummer 1 erst nieder und spielen die Franzosen dann aus. Stübner ist 20, Kirsten 19, Andreas Thom, der über die rechte Seite immer wieder anschiebt, ist vier Tage zuvor gerade 20 geworden. Thom serviert seinem Klubkollegen Ernst neun Minuten nach der Halbzeitpause butterweich das 1:0, Kopfball, drin. Als Ernst später ein Solo von der Mittellinie startet und erst von Frankreichs Schlussmann Joel Bats gebremst wird, stehen alle im Stadion. Ernst macht ihnen Spaß, und sie geben es zu, sie zeigen es.

René Müller hält alles - nur einen Gallischen Hahn nicht

Nach 81 Minuten geht der Europameister endgültig k.o., Matthias Liebers' Rückpasse von der Grundlinie verwertet Ronald Kreer mit Wucht. Ein Leipziger legt vor, ein Leipziger trifft, und Leipzig steht Kopf. Bats patzt dabei, während sein Gegenüber alles hält: von Maxime Bossis, von Dominique Rocheteau, von Bruno Bellone und auch einen fast unhaltbaren Kopfball von Touré. René Müller, der manchmal wirklich wie ein Feldspieler mitspielt - er hält und fängt alles, nur nicht den von französischen Fans mitgebrachten Gallischen Hahn, der durch seinen Strafraum tippelt.

Ich wusste, dass Sepp Maier mal nach einer Ente gehechtet ist. So mutig war ich nicht.

René Müller

Jahrzehnte später, als Müller längst Scout bei Borussia Mönchengladbach ist und ich Reporter beim kicker, erzählt er mir in einem unserer Interviews, untermalt von lautem Lachen: "Ich wusste, dass Sepp Maier mal nach einer Ente gehechtet ist. So mutig war ich nicht." Als die DDR-Auswahl, die das WM-Ticket für Mexiko 1986 trotz ihres starken Quali-Endspurts knapp verpasst, Monate später durch Südamerika tourt, läuft die Szene mit Müller und dem Hahn im TV rauf und runter. Müller sagt: "Ich wollte nur, dass im Strafraum Ruhe ist." Im Strafraum ist Ruhe, aber nur dort, zum Glück.

Steffen Rohr

Der fast vergessene Olympiasieg der DDR-Fußballer